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Rio de Janeiro. Auch Rios Favelas sind nicht frei von Hundekot.

Zuckerhut, Copacabana und die Christo Statue – allein deshalb ist Rio sicher schon eine Reise wert. Aber die Orte, wohinter sich das wahre Leben in Rio de Janeiro verbirgt, sind die unzähligen Favelas. Hier herrscht absolute Anonymität. Menschen besitzen keine Adressen, sind nicht gemeldet und leben in denkbar armen Verhältnissen. Und genau das sind die Gründe, die das Leben dort so unberechenbar machen, es Banden ermöglichen, vergleichsweise unbehelligt ihr Unwesen zu treiben, weshalb es oftmals die Kriminalität ist, die den Alltag bestimmt. Der Gedanke, eine Favela zu besuchen, faszinierte mich schon seitdem ich von deren Existenz wusste. Und so begann ich, mich über diesbezügliche Möglichkeiten zu informieren.

Mittlerweile hält der Tourismus auch in die Favelas Einzug. Zugegebenermaßen: es ist grenzwertig, einen „Ausflug“ in die ärmsten Viertel der Stadt zu unternehmen und danach wieder ins Hotel mit Pool und Zimmerservice zurückzukehren (in meinem Falle handelte es sich natürlich um ein bescheidenes Bett in einem Hostel). Aber genau das ist  der Aspekt, der mich in Rio am meisten beschäftigt hat. Nie zuvor war ich in einer Stadt, in der das Gefälle zwischen arm und reich so offensichtlich war wie in Rio. Dieser große Gegensatz: die da unten in der Stadt, denen es vergleichsweise gut geht und die da oben, in den Favelas, die nicht einmal auf dem Papier existieren. Villa arriba und villa abajo. Egal in welcher Form ich die Favelas besucht hätte, es hätte in meinen Augen in gewisser Weise immer etwas Anstößiges gehabt. Für mich habe ich eine Mittellösung gefunden: eine Tour mit einem Guide, der selbst in einer Favela (Rosinha) aufgewachsen ist und kleine Gruppen (Vier an der Zahl) durch bestimmte Bereiche führt. Das Geld, das ich dafür gezahlt hatte, kommt überwiegend einer sozialen Einrichtung für Kinder, die in Rosinha etabliert wurde, zu Gute.

Bevor es losging, bekamen wir eine kleine Einweisung (Fotos nur an bestimmten Stellen: Drogenbosse möchten nicht fotografiert werden, immer in der Gruppe bleiben etc.). Und dann der Satz, den man nicht alle Tage hört: „Vielleicht schüttelt ihr heute mehrmals Leuten die Hand, die jemanden umgebracht haben oder mit Drogen handeln.“ Klare Ansage. Aber durch all die Berichte, die ich aus dem Fernsehen kannte, erstaunte mich das nicht weiter.  Und so fuhren wir in einer Vierergruppe los. Am Fuße Rosinhas wurden wir von Bewohnern mit Mopeds abgeholt und düsten den Berg hinauf. Mich beschlich ein mulmiges Gefühl, die jungen Männer fuhren nicht gerade langsam und die Menschen, die uns entgegenkamen starrten uns an. Dennoch war ich neugierig und gespannt, was mich erwartete, wobei ich mir natürlich auch die Frage stellte und nach wie vor stelle: wie weit darf Neugierde gehen, wann mündet Neugierde in Voyeurismus?

Und dann ging es los, vom oberen Bereich Rosinhas hinab durch schmale Gässchen hindurch, eine Tür nach der anderen, manche Türen standen offen und ein Blick ins Innenleben der Behausungen war möglich. Ich verwende bewusst das Wort Behausung, da sich eine an westliche Standards gewohnte Person wohl nur schwer vorstellen könnte, unter den hiesigen Bedingungen zu leben. Hin und her gerissen zwischen Aufregung und Entdeckungsdrang und dem schlechten Gewissen (darf ich das? Darf ich in die „Häuser“ hineingucken, nur, weil ich wissen will, wie DIE DA leben?) lief ich dem Guide hinterher. Dieser schüttelte jedem uns entgegenkommenden Bewohner Rosinhas die Hand, grüßte freundlich. Wir taten es ihm nach. Wir wurden seltsam gemustert, jedoch waren die Blicke nicht unangenehm. Wobei die Atmosphäre eine eigenartige war: der Gestank, die Behausungen, die omnipräsenten Müllberge, die Menschen, von denen man weiß, dass sie wissen, in ihrer Stadt, in ihrem Land, keine legale Protektion zu genießen. All das verbunden mit dem Gedanken: ich befinde mich gerade in einer Favela in Rio, einem Drogenumschlagplatz, einem gefährlichen Ort, an dem ein Menschenleben, inklusive meinem- vergleichsweise wenig wert ist. Es war einer dieser Dinge, von denen ich wusste, dass sie für mich einmalig sind. Dass ich nie wieder an diesem Ort sein würde. Auch aus diesem Grund wird mir ein Moment für immer in Erinnerung bleiben. Da saß ein Kind mit einem Trikot der brasilianischen Nationalmannschaft bekleidet auf einer Stufe vor dem Eingang eines Hauses. Dieses Kind strahlte mich so an, wie ich es sonst nur aus der Werbung für Hipp-Babybrei kannte.

Doch auch dieser Moment konnte nicht über die miserablen Lebensumstände hinwegtäuschen, mit denen die dort lebenden Brasilianer konfrontiert sind. Die Stimmung innerhalb der Gruppe war gedrückt. Jeder hing seinen Gedanken nach. Ich so sehr, dass ich plötzlich stolperte, mich auf einem Mäuerchen abstützte und meine Hände etwas Weiches spürten- Hundekot. Na prima. Ein Australier, der sich hinter mir befand, sagte nur: „Shit happens.“ In der Tat. Das mit dem Händeschütteln ging ab diesem Zeitpunkt natürlich nicht mehr. Aber ich, die Westeuropäerin, habe ja die Möglichkeit, mit dem Bus nach Hause zu fahren und meine Hände mit sauberem Wasser und Seife zu waschen. Manch anderer hat diese Möglichkeit nicht.

Viele tolle Bilder zu Brasilien: hier.

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2 Gedanken zu “Rio de Janeiro. Auch Rios Favelas sind nicht frei von Hundekot.

  1. schöner text über den kampf zwischen neugierde und schlechtem gewissen. Das Gefühl an einem Platz zu sein, wo die Unterschiede zwischen arm und reich so gravierend sind, wie noch nie erlebt kenne ich auch, aus Indien. Und trotzdem ist die Faszination immer wieder groß, gerade in solche Länder zu reisen. Ich glaube, am besten ist, die Eindrücke mitzunehmen und einfach mal kurz dankbar sein. Über das was man hat. Und mit seinen Wünschen vielelicht etwas bescheidener sein und sich über eine warme Dusche freuen ;-)

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